Klassische Organisationsstrukturen kommen in der zunehmend dynamischen Wirtschaftswelt an ihre Grenzen. Sie sind oft funktional, projekt- oder prozessorientiert und können durch ihre hierarchischen Entscheidungswege und Silo-Denkweisen meist wenig flexibel auf Neuerungen reagieren.
Annabelle Müller und Horst Tisson beschäftigen sich in ihrem Beitrag „Work AI“ (Springer Gabler Verlag, FOM-Edition) mit Arbeitsplatz unterstützenden oder auch ersetzenden KI-Technologien. Damit werden unmittelbar einige grundlegende Fragestellungen für Unternehmen berührt:
- Sind Unternehmen von der KI betroffen und wenn ja, wo und in welchem Ausmaß?
- Sind im Unternehmen die Voraussetzungen, wie Know-how und Mindset auf der Entscheider-Ebene vorhanden, hat das Unternehmen die richtige Kultur und ist es agil und flexibel aufgestellt?
- Wie werden neue Technologien von Nutzern aufgenommen, werden diese akzeptiert oder abgelehnt, existieren Ängste?
Das Augenmerk der von beiden durchgeführten Untersuchung liegt auf der Notwendigkeit für Unternehmen, sich organisatorisch agiler und bezogen auf den Einsatz neuer Technologien ergebnisoffener aufzustellen: Umfassend und langfristig geplante Veränderungsprojekte passen heute nicht mehr in eine hochdynamische und komplexer werdende Unternehmenswelt. Digitale Lösungen – und im Speziellen die KI, können nur „von innen heraus“ entwickelt werden, das heißt einfach einmal anfangen, schrittweise Erfahrungen sammeln und erste, auch kleine (!), Erfolge erzielen. Die quantitative Befragung der Unternehmen (Entscheider und Nutzer von KI) wurde freundlicherweise vom Wirtschaftsverein Harburg unterstützt. Wesentliche Erkenntnisse der Studie werden deshalb exklusiv (auszugsweise) zur Verfügung gestellt.
Für einen strategischen Einsatz digitaler Lösungen und Künstlicher Intelligenz im Unternehmen ist die Feststellung einer entsprechenden Betroffenheit eine zwingende Voraussetzung. So fühlten sich beispielsweise 75,95% der Befragten durch VUCA (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Unschärfe) betroffen. Insgesamt sehen sich 48,59% der Befragten vollständig und 37,32% teilweise durch Digitalisierung und KI bereits betroffen. Eine zukünftige Betroffenheit erwarten 92,96% (57,04% volle Zustimmung, 35,92% teilweise Zustimmung) der Unternehmen.
Die Einschätzung einer Betroffenheit bedingt allerdings mit Blick auf technologisch wichtige Unternehmensentscheidungen, dass auf der Ebene der Entscheider ein entsprechendes Wissen über neue Technologien vorhanden ist und der richtige Einsatz im Unternehmen verstanden wird. Das ist insofern wichtig, weil es sich um strategische Weichenstellungen und nicht operativ, kurzfristig korrigierbare Entscheidungen handelt. Das Know-how auf der Führungsebene wurde explizit abgefragt und stützt eine Vermutung der Verfasser: Mehr als die Hälfte der Befragten schätzen ihr Unternehmen so ein, dass es „… an dem nötigen Know-how für Digitalisierung, Künstliche Intelligenz (KI) sowie der Einschätzung der Auswirkungen auf unser Geschäftsmodell“ fehlt.
In einer weiter ausschließlich auf KI fokussierten Frage gaben insgesamt 46,48% der Befragten an: „In unserem Unternehmen fehlt den Entscheidungsträgern das nötige Know-how für KI und die Einschätzung der Auswirkungen auf unsere Organisation und Arbeit“. Auch hier ergab sich, dass Entscheider und Nutzer die gleiche Einschätzung haben.
In Theorie und Praxis herrscht mittlerweile die Erkenntnis, dass neue Technologien wie KI nicht „fertig von außen eingekauft“ werden können. Dabei spielen unternehmensspezifische Eigenschaften eine besondere Rolle. Vielfach wird auch von der so genannten „Unternehmens-DNA“ gesprochen. Veränderungen, die einer hohen Dynamik und Komplexität in den Bereichen Technologie/Daten, Kunden, Wertschöpfung und Wettbewerb unterliegen, müssen deshalb anders durchgeführt werden als frühere „Digitization-Projekte“ (Umwandlung analoger in digitale Prozesse). Und Digitalisierungs- und KI-Projekte haben in der Regel das Ziel, innovative Geschäftsmodelle hervorzubringen. Wenn aber die Innovationszyklen immer kürzer werden, müssen Unternehmen dafür sorgen, dass sie flexibler und resilienter werden. Hierzu bedarf es einer agilen Organisation und einem veränderten Verständnis von Transformation und Change.
Wer sich einer weiteren Digitalisierung stellt, muss neben dem notwendigen Wissen auch die richtige Einstellung zur Anpassung von Organisationen und Führungsstrukturen haben. In der Umfrage stimmten 29,11% der Teilnehmer vollständig der Einschätzung zu, dass ihr Unternehmen eine gute Einstellung zu Digitalisierungsmaßnahmen hat und auch das Geschäftsmodell an die aktuellen digitalen Anforderungen anpasst; 40,51% der Befragten stimmten teilweise zu. Die Mittelwerte liegen bei 3,82 (Entscheider) und 3,76 (Nutzer). Ein Korrelationstest zwischen „es fehlt an dem nötigen Know-how für Digitalisierung und KI“ und „gute Einstellung zu Digitalisierungsmaßnahmen“ ergibt einen signifikant negativen Zusammenhang mit r=-0,315 (Pearson, 2.000 Bootstrap-Stichproben). Auf die Feststellung „Unser Unternehmen ist fortschrittlich. Das richtige Mindset, die Kultur und Führung, ermöglichen es, Digitalisierungsthemen strukturiert und planvoll anzugehen“ antworteten die Befragten: 25,32% volle Zustimmung, 35,44% teilweise Zustimmung, r=-0,262).
Um die beschriebenen „digitalen Herausforderungen“ bewältigen zu können, sollten Mindset, Kultur und Führungsstil die Mitarbeiter auf der einen Seite motivieren und auf der anderen Seite sollten Ängste bezüglich des Einsatzes von neuen digitalen Lösungen respektive KI diese Bemühungen nicht konterkarieren. Ebenso könnten Arbeitsüberlastungen – insbesondere durch den demografischen Wandel hervorgerufen – einen Einfluss auf die Motivation und zukünftige Transformationsprojekte haben. Dem Item „Das Mindset, die Kultur und unser Führungsstil führen dazu, dass die Mitarbeiter sehr motiviert sind.“ stimmten 58,66% (21,33% vollständig und 37,33% teilweise) zu. Für das 95%-Konfidenzintervall ergaben sich Mittelwerte zwischen 3,86 und 3,26 (Entscheider) sowie 3,60 und 3,03 (Nutzer). Die Mittelwerte können mit einem Signifikanzwert von p=0,111 als gleich angenommen werden. Hinsichtlich möglicher Ängste im expliziten Kontext von KI („KI verbreitet Angst, weil wir die Auswirkungen auf die Arbeitswelt nicht kennen“) gehen die Einschätzungen etwas mehr auseinander, aber auch hier antworten die Befragten signifikant identisch: Die Mittelwertgrenzen bewegen sich zwischen 3,60 und 3,10 (Entscheider) sowie 3,58 und 2,99 (Nutzer). Aber immerhin 10,56% stimmen der Aussage voll zu und 41,55% teilweise. Während das vorherige Item die Auswirkungen auf die Arbeitswelt offen lässt, schließt sich in der Befragung folgende Aussage mit einem konkret erwarteten Ergebnis an: „KI verbreitet Angst, weil sie Arbeitsplätze vernichten wird“. Die Mehrzahl der Antworten (56,23%) sieht das allerdings nicht ganz so pessimistisch.
Es wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass Digitalisierungs- beziehungsweise Transformationsprojekte agile Organisationsstrukturen erfordern. Nur wenn agil in Veränderungsprojekten vorgegangen wird, können sich Unternehmen auf neue Situationen flexibel einstellen und zudem eine verbesserte Stabilität und Resilienz sicherstellen. Die befragten Unternehmen scheinen sich diesbezüglich darauf eingestellt zu haben. In 79,08% der Fälle werden den Entscheidern gute Noten ausgestellt. Das heißt das „…Management hat es verstanden, dass wir agiler werden müssen, um auf ständige Veränderungen flexibel reagieren zu können“. Dies sehen sowohl die Entscheider (MW 4,08) als auch die Nutzer (MW 3,96) signifikant gleich. Zudem schätzen 67,32% der Befragten ihre Organisationen so ein, dass diese flexibel und angemessen auf technologische Anforderungen reagieren können. Beide Items korrelieren signifikant mit r=0,332.
Insgesamt kann den an der Studie teilgenommenen Unternehmen eine positive Einstellung zu Digitalisierungsthemen und KI sowie den hierzu notwendigen organisatorischen Erfordernissen attestiert werden. Mit einem sehr hohen Wert werden die Betroffenheit der Unternehmen und ihrer Organisationen durch die technologischen Neuerungen erkannt sowie die notwendigen Voraussetzungen in den Bereichen Mindset, Kultur, Organisation und Führung geschaffen. Etwas bedenklich scheint das mit nahezu 50% angegebene fehlende Know-how über Digitalisierung und KI bei Entscheidern zu sein. Auch die vorhandene Angst hinsichtlich der KI und den Auswirkungen auf die Arbeitsplätze sollte sehr ernst genommen werden.
Im Nachgang zu den Studienergebnissen ergaben weitere gezielte Expertenbefragungen, dass die täglichen Medienberichte über den KI-Einsatz bei großen Unternehmen bekannt sind und der Zusammenhang zwischen Daten, „Machine Learning“ und Referenzfällen grundlegend verstanden wurde. Meist fehlt aber die Idee: „wo und wie kann ich in meinem Unternehmen die neuen Technologien einsetzen, was kostet es, wie rechnet sich eine KI?“. Die Anforderungen an die Entscheider hinsichtlich des Verständnisses sind höher als noch vor 40 Jahren, als die ersten integrierten Business-Applikationen eingeführt wurden. Das Wichtigste scheint aus Sicht der Verfasser, dass Unternehmen heute „einfach einmal machen und erste Erfahrungen sammeln“. Wer es heute nicht mehr schafft, auf den Schnellzug aufzuspringen, wird morgen auf dem Bahnsteig stehen.
Verfasser
Annabelle Müller ist Bachelor of Arts (Betriebswirtschaft, Fachhochschule Westküste) und Master of Science (Business Consulting & Digital Management, FOM Hochschule für Oekonomie & Management). Seit über 6 Jahren ist sie bei der Avodaq AG angestellt und heute für das Service Delivery Management zuständig. Annabelle Müller ist zertifiziert in den Bereichen Projektmanagement (PRINCE2) und IT- Servicemanagement (ITIL).
Horst Tisson ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter von Tisson & Company, einer auf Data Science, Projekt- sowie Workmanagement spezialisierten Unternehmensberatung mit Hauptsitz in Hamburg. Er studierte Betriebswirtschaftslehre und promovierte an der Universität Hamburg. Danach war der gebürtige Hamburger unter anderem für IBM, Andersen Consulting/Accenture und Thomas J. C. Matzen tätig. Seit 2009 lehrt er als Professor für Betriebswirtschaftslehre an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management mit den Schwerpunkten „Controlling und Informationsmanagement“. Die besonderen Interessen von Horst Tisson liegen in den Bereichen Business Intelligence, Data Mining sowie Künstliche Intelligenz. Zudem ist er Experte für digitale Geschäftsmodelle und datengetriebenes Marketing. Horst Tisson ist Mitglied bei der Versammlung Ehrbarer Kaufleute zu Hamburg e.V. (VEEK) und Der Wirtschaftsverein e. V.
Studie
Die Umfrage wurde in der Zeit vom 04.12.2023 bis 21.12.2023 durchgeführt. Von den sehr gezielt angeschriebenen über 200 Teilnehmern gab es 158 Rückläufer. Davon wurden 140 Fragebögen mit 48 Fragen vollständig beantwortet. Die Befragung erfolgte mit Hilfe einer Likert-Skala mit 5 Antwortmöglichkeiten von „Stimme voll zu“ bis „Stimme absolut nicht zu“. Die Anordnung der Antwortmöglichkeiten unterlag einer gleichmäßigen Verteilung, sodass äquidistante Intervalle angenommen werden und die Auswertung quantitativ erfolgen konnte. Zudem wurden die Faktoren Geschlecht, Rolle (Entscheider, Nutzer), Branche/Unternehmenstyp und -größe (KMU und Großunternehmen) erhoben. Bei Mittelwertvergleichen wurden für unterschiedliche Stichprobengrößen gängige Adjustierungen vorgenommen (z. B. „gepoolte Standardabweichungen“). Die Testungen waren nicht-parametrisch, teilweise wurde deshalb mit Bootstrapping- und Permutationsverfahren gearbeitet. Die im Beitrag getroffenen Aussagen sind ein Auszug aus der Gesamtstudie.